Ein Cyberpunk-Manifest
Find the original text by Christian Kirtchev here.
Wir sind die ELEKTRONISCHEN GEISTER, eine Gruppe von freidenkenden Rebellen. Cyberpunks. Wir leben im Cyberspace, wir sind überall, wir kennen keine Grenzen. Dies ist unser Manifest. Das Manifest der Cyberpunks.
I. Cyberpunk
1/ Wir sind es, die Anderen. Ratten der Technologie, die im Ozean der Informationen schwimmen.
2/ Wir sind das zurückgezogene, kleine Kind in der Schule, das am letzten Tisch in der Ecke des Klassenzimmers sitzt.
3/ Wir sind der Teenager, den alle für seltsam halten
4/ Wir sind der Student, der sich in Computersysteme einhackt und die Reichweite seiner Fähigkeiten erkundet.
5/ Wir sind der Erwachsene im Park, der auf einer Bank sitzt, den Laptop auf den Knien, und die neueste virtuelle Realität programmiert.
6/ Uns gehört die Garage, vollgestopft mit Elektronik. Der Lötkolben in der Ecke des Schreibtisches und das zerlegte Radio in der Nähe – sie gehören auch uns. Unser ist der Keller mit Computern, surrenden Druckern und piepsenden Modems.
7/ Wir sind diejenigen, die die Realität auf eine andere Weise sehen. Unsere Betrachtungsweise zeigt mehr, als gewöhnliche Menschen sehen können. Sie sehen nur das Äußere, wir aber sehen das Innere. Das ist es, was wir sind – Realisten mit der Brille der Träumer.
8/ Wir sind diese merkwürdigen Menschen, die in der Nachbarschaft fast unbekannt sind. Menschen, die in ihren eigenen Gedanken versunken Tag für Tag vor dem Computer sitzen und das Netz nach etwas durchstöbern. Wir sind nicht oft außer Haus, nur von Zeit zu Zeit, um zum nahegelegenen Elektrogeschäft zu gehen oder in die übliche Bar, um einige der wenigen Freunde zu treffen, die wir haben, oder um einen Kunden zu treffen, oder zum Hinterhof-Apotheker in der Seitenstraße… oder einfach nur für einen kleinen Spaziergang.
9/ Wir haben nicht viele Freunde, nur ein paar, mit denen wir auf Partys gehen. Alle anderen, die wir kennen, kennen wir online. Unsere wirklichen Freunde sind dort, auf der anderen Seite der Leitung. Wir kennen sie aus unserem Lieblings-IRC-Kanal, aus den News-Groups, aus den Systemen, in denen wir herumhängen:
10/ Wir sind diejenigen, die sich einen Dreck darum scheren, was die Leute über uns denken, uns ist es egal, wie wir aussehen oder was die Leute in unserer Abwesenheit über uns reden.
11/ Die meisten von uns ziehen es vor, im Verborgenen zu leben, unbekannt zu sein für alle, außer für die wenigen, mit denen wir zwangsläufig in Kontakt treten müssen.
12/ Andere lieben die Öffentlichkeit, sie lieben den Ruhm. Sie alle sind in der Untergrundwelt bekannt. Ihre Namen sind dort oft zu hören. Aber uns alle eint eines – wir sind Cyberpunks.
13/ Die Gesellschaft versteht uns nicht, in den Augen der gewöhnlichen Menschen, die weit ab von Informationen und freien Gedanken leben, sind wir die “Sonderbaren” und “Verrückten”. Die Gesellschaft lehnt unsere Art zu denken ab – eine Gesellschaft, die nur in einer einzigen Art und Weise lebt, denkt und atmet – einem Klischee.
14/ Sie verleugnen uns, weil wir wie freie Menschen denken, und freies Denken ist verboten.
15/ Der Cyberpunk hat eine äußere Erscheinungsform, er ist keine Bewegung. Cyberpunks sind Menschen, angefangen von der gewöhnlichen und niemandem bekannten Person, über den Künstler-Technomanen, den Musiker, der elektronische Musik spielt, bis hin zum oberflächlichen Gelehrten.
16/ Der Cyberpunk ist keine Literaturgattung mehr, nicht einmal eine gewöhnliche Subkultur. Der Cyberpunk ist eine eigenständige neue Kultur, die aus dem neuen Zeitalter hervorgegangen ist. Eine Kultur, die unsere gemeinsamen Interessen und Ansichten vereint. Wir sind eine Einheit. Wir sind Cyberpunks.
II. Gesellschaft
1/ Die Gesellschaft, die uns umgibt, ist verstopft mit Konservativität, die alles und jeden an sich zieht, während sie langsam im Treibsand der Zeit versinkt.
2/ Wie hartnäckig sich manche auch weigern mögen, es zu glauben, es ist offensichtlich, dass wir in einer kranken Gesellschaft leben. Die so genannten Reformen, mit denen sich unsere Regierungen so geschickt brüsten, sind nichts anderes als ein kleiner Schritt nach vorn, während ein ganzer Sprung möglich ist.
3/ Die Menschen fürchten das Neue und Unbekannte. Sie bevorzugen das Alte, das Bekannte und die geprüften Wahrheiten. Sie haben Angst vor dem, was das Neue für sie bringen kann. Sie haben Angst, dass sie verlieren könnten, was sie haben.
4/ Ihre Angst ist so stark, dass sie das Revolutionäre zum Feind und die freie Idee zu dessen Waffe erklärt hat. Das ist ihre Schuld.
5/ Die Menschen müssen diese Angst hinter sich lassen und vorwärts gehen. Was macht es für einen Sinn, an dem Wenigen festzuhalten, das man jetzt hat, wenn man morgen mehr haben kann. Alles, was sie tun müssen, ist, ihre Hände auszustrecken und das Neue zu fühlen; den Gedanken, den Ideen, den Worten Freiheit zu geben:
6/ Seit Jahrhunderten ist jede Generation nach dem gleichen Muster erzogen worden. Ideale sind das, was jeder befolgt. Die Individualität ist vergessen. Die Menschen denken auf dieselbe Art und Weise und folgen dem Klischee, das ihnen in der Kindheit eingetrichtert wurde, der Klischee-Erziehung für alle Kinder: Und wenn es jemand wagt, sich der Autorität zu widersetzen, wird er bestraft und als schlechtes Beispiel hingestellt. “Das passiert mit dir, wenn du deine eigene Meinung vertrittst und die deines Lehrers ablehnst”.
7/ Unsere Gesellschaft ist krank und muss geheilt werden. Das Heilmittel ist eine Änderung des Systems…
III. Das System
1/ Das System. Ein Jahrhunderte altes System, das auf Prinzipien beruht, die heute nicht mehr gelten. Ein System, das sich seit dem Tag seiner Geburt kaum verändert hat.
2/ Das System ist falsch.
3/ Das System muss uns seine Wahrheit aufzwingen, damit es herrschen kann. Die Regierung braucht uns, um ihr blind zu folgen. Aus diesem Grund leben wir in einer Informationsfinsternis. Wenn die Menschen andere Informationen als die der Regierung erhalten, können sie nicht mehr zwischen richtig und falsch unterscheiden. So wird die Lüge zu einer Wahrheit – einer Wahrheit, die für alles andere grundlegend ist. Auf diese Weise kontrollieren die Führenden mit Lügen, und das einfache Volk hat keine Ahnung, was wahr ist, und folgt der Regierung blind und vertraut ihr.
4/ Wir kämpfen für die Freiheit der Informationen. Wir kämpfen für die Rede- und Pressefreiheit. Für die Freiheit, unsere Gedanken frei zu äußern, ohne vom System verfolgt zu werden.
5/ Selbst in den am weitesten entwickelten “demokratischen” Ländern zwingt das System Fehlinformationen auf. Selbst in den Ländern, die vorgeben, die Wiege der Meinungsfreiheit zu sein. Fehlinformation ist eine der Hauptwaffen des Systems. Eine Waffe, die sie sehr gut einsetzen.
6/ Es ist das Netz, das uns hilft, die Informationen frei zu verbreiten. Das Netz, das keine Grenzen und Informationsgrenzen kennt.
7/ Unseres ist deines, deines ist unseres.
8/ Jeder kann Informationen weitergeben, ohne Einschränkungen.
9/ Die Verschlüsselung von Informationen ist unsere Waffe. So können sich die Worte der Revolution ungehindert verbreiten, und die Regierung kann nur raten.
10/ Das Netz ist unser Reich, im Netz sind wir Könige.
11/ Gesetze. Die Welt verändert sich, aber die Gesetze bleiben die gleichen. Das System ändert sich nicht, nur ein paar Details werden an die neue Zeit angepasst, aber alles im Konzept bleibt gleich.
12/ Wir brauchen neue Gesetze. Gesetze, die in die Zeit passen, in der wir leben, in die Welt, die uns umgibt. Keine Gesetze, die auf der Grundlage der Vergangenheit aufgebaut sind. Gesetze, die für heute gebaut werden, Gesetze, die morgen passen werden.
13/ Die Gesetze, die uns nur zurückhalten. Gesetze, die dringend überarbeitet werden müssen.
IV. Die Vision
1/ Manchen Menschen ist es egal, was auf globaler Ebene geschieht. Sie interessieren sich für das, was um sie herum, in ihrem Mikrouniversum, geschieht.
2/ Diese Menschen können nur eine dunkle Zukunft sehen, denn sie können nur das Leben sehen, das sie jetzt führen.
3/ Andere zeigen eine gewisse Besorgnis über das Weltgeschehen. Sie sind an allem interessiert, an der Zukunft, an dem, was weltweit passieren wird.
4/ Sie haben eine optimistischere Sichtweise. Für sie ist die Zukunft sauberer und schöner, denn sie können in sie hineinsehen und sehen einen reiferen Menschen, eine weisere Welt.
5/ Wir befinden uns in der Mitte. Wir interessieren uns für das, was jetzt passiert, aber auch für das, was morgen passieren wird.
6/ Wir schauen in das Netz, und das Netz wächst und wächst.
7/ Bald wird alles auf dieser Welt vom Netz verschluckt werden: von den militärischen Systemen bis zum heimischen PC.
8/ Aber das Netz ist ein Haus der Anarchie.
9/ Es kann nicht kontrolliert werden und darin liegt seine Stärke.
10/ Jeder Mensch wird auf das Netz angewiesen sein.
11/ Alle Informationen werden dort sein, eingeschlossen in den Abgründen von Nullen und Einsen.
12/ Wer das Netz kontrolliert, kontrolliert die Informationen.
13/ Wir werden in einer Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart leben.
14/ Das Schlechte kommt vom Menschen, das Gute kommt von der Technologie.
15/ Das Netz wird den kleinen Mann kontrollieren, und wir werden das Netz kontrollieren.
16/ Denn wenn du nicht kontrollierst, wirst du kontrolliert.
17/ Informationen sind MACHT!
V. Wer sind wir?
1/ Wo sind wir?
2/ Wir alle leben in einer kranken Welt, in der der Hass eine Waffe und die Freiheit ein Traum ist.
3/ Die Welt entwickelt sich so langsam. Für einen Cyberpunk ist es schwer, in einer unterentwickelten Welt zu leben, die Menschen um ihn herum betrachtend, erkennend wie verkehrt sie sich entwickeln.
4/ Wir gehen voran, sie ziehen uns wieder zurück. Die Gesellschaft unterdrückt uns. Ja, sie unterdrückt die Freiheit der Gedanken. Mit ihren grausamen Erziehungsprogrammen in Schulen und Universitäten. Sie drillen den Kindern ihre Sicht der Dinge ein und jeder Versuch, eine andere Meinung zu äußern, wird verweigert und bestraft.
5/ Unsere Kinder werden in diesem alten und immer noch unveränderten System erzogen. Ein System, das keine Gedankenfreiheit duldet und eine strikte Befolgung der Regeln verlangt …
6/ In was für einer Welt, wie verschieden von dieser, könnten wir jetzt leben, wenn die Menschen Sprünge machen würden und nicht Kriechgänge.
7/ Es ist hart, in dieser Welt zu leben, Cyberpunk.
8/ Es ist, als ob die Zeit stehen geblieben wäre.
9/ Wir leben am richtigen Ort, aber nicht zur richtigen Zeit.
10/ Alles ist so gewöhnlich, die Menschen sind alle gleich, ihre Taten auch. Als ob die Gesellschaft das dringende Bedürfnis verspürt, in der Vergangenheit zu leben.
11/ Einige, die versuchen, ihre eigene Welt zu finden (die Welt eines Cyberpunks) und dies auch schaffen, erbauen sich ihre eigene Welt. Erschaffen in ihren Gedanken, verändern sie die Realität, überlagern sie und leben so in einer virtuellen Welt. Das Erdachte baut auf der Realität auf.
12/ Andere gewöhnen sich einfach an die Welt, wie sie ist. Sie leben weiterhin in ihr, obwohl sie ihnen missfällt. Sie haben keine andere Wahl als die nackte Hoffnung, dass die Welt aus ihrer Leere hervorbricht und sich weiterbewegt.
13/ Wir versuchen, die Situation zu verändern. Wir versuchen, die gegenwärtige Welt an unsere Bedürfnisse und Ansichten anzupassen. Das, was geeignet ist, maximal zu nutzen, und den Müll zu ignorieren. Wo wir das nicht können, leben wir einfach in dieser Welt, wie Cyberpunks, so schwer das auch sein mag, und wenn die Gesellschaft uns bekämpft, schlagen wir zurück.
14/ Wir bauen unsere Welten im Cyberspace.
15/ Zwischen den Nullen und Einsen, inmitten den Bits der Information.
16/ Wir bauen unsere Gemeinschaft auf. Die Gemeinschaft der Cyberpunks.
Vereinigt euch! Kämpft für eure Rechte! Wir sind die ELEKTRONISCHEN GEISTER, eine Gruppe freigeistiger Rebellen. Cyberpunks. Wir leben im Cyberspace, wir sind überall, wir kennen keine Grenzen. Dies ist unser Manifest. 14. Februar, 1997 Christian Kirtchev